Leid ist ansteckend

„Sterbewünsche können sich verändern, wenn man das existenzielle Leid der Menschen ernst nimmt und in Gesprächen neue Sichtweisen auf den Wert des Lebens entwickeln kann.“
Christoph Gabl, Leitender Arzt im Mobilen Palliativteam

Eine Kernaufgabe von Hospiz-und Palliativbetreuungen und zugleich eine der größten persönlichen Herausforderungen für die Mitarbeiter*innen ist die Begleitung von Menschen mit schwerem seelischen Leiden. Dieses ist strikt von einer Depression zu unterscheiden und medikamentösen Therapien nicht zugänglich. Daher sind diese Menschen auf kompetente Betreuungspersonen angewiesen, die ihnen und ihren Angehörigen zur Seite stehen, damit sie einen inneren Weg aus der Leidenssituation finden können. Das Wahrnehmen des Leidens anderer Menschen hat ansteckenden Charakter. In diesem Fall erleben Betreuungspersonen selbst aufgrund zwischenmenschlicher Prozesse die gleichen Leiderfahrungen, die gleichen Schmerzen der Seele, wie die erkrankten Menschen.

Wenn es einem den Boden unter den Füßen wegzieht, …

„Existenzielles Leiden“ entsteht laut Alfried Längle dadurch, dass die Bedingungen für ein gutes Leben verloren gehen. Bislang lebenstragende Inhalte des Daseins und somit das Sicherheit gebende Fundament der Existenz werden zerstört. Die Betroffenen beschreiben diese Erfahrung so, dass ihnen durch die Diagnosemitteilung einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei. Typischerweise geht schweres existenzielles Leiden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Sterbewunsch einher.
Ein Mensch, der bleibenden Eindruck durch sein schweres existenzielles Leiden bei mir hinterlassen hat, ist Herr Bauer. Er lebt mit seiner Ehefrau, seinen drei Kindern und vier Enkeln im selben Haus und leitete bis zum 76. Geburtstag mit viel Erfolg den eigenen Tischlereibetrieb mit 15 Angestellten. Ich lerne Herrn Bauer in seinem 84. Lebensjahr kennen.

… kann der Wunsch, das Leben zu verkürzen, groß sein

Drei Jahre zuvor erkrankte er an einem bösartigen Tumor, nach zwei Jahren traten Metastasen auf. Im Augenblick belastet ihn seine körperliche Schwäche, weshalb er geliebte alltägliche Tätigkeiten unterlassen muss. Der Wunsch nach Verkürzung seines Lebens, also sein Sterbewunsch, ist sehr ausgeprägt. Im Internet hat er gelesen, dass durch vollständigen und freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit der Sterbeprozess beschleunigt werden kann. Die Durchführung eines assistierten Suizids sieht er als weitere, hilfreiche Möglichkeit an. Alle Familienmitglieder möchten den Sterbewunsch von Herrn Bauer unterstützen, weil sie seine ausgeprägt leidvolle Situation wahrnehmen, geradezu von ihr angesteckt sind. Die Ehefrau und ein Sohn, die die mögliche Durchführung einer Lebensverkürzung als persönlich belastend erleben, fragen mehrfach nach dem zeitlichen Verlauf der Erkrankung ohne aktive Lebensverkürzung. Dem dringenden und fast verzweifelten Wunsch von Herrn Bauer nach Lebensverkürzung muss die schwere psychische Belastung der Angehörigen durch ein derartiges Vorgehen gegenübergestellt werden. es ist bekannt, dass die Durchführung einer Lebensverkürzung, beispielsweise durch einen Assistierten Suizid, gehäuft zu posttraumatischen Belastungsstörungen, komplizierterer Trauer und Angststörungen bei den Angehörigen führen kann (Wagner et al. 2012).Wir besprechen, dass der Auslöser von Sterbewünschen fast immer die existenzielle Leiderfahrung der Erkrankten ist. Sie machen das Erleben von Herrn Bauer verständlich.

Herr B. „Ich mag das Leben so nicht“

Er erlebt sich als Sklave seines eigenen Körpers, sein geschwächter Körper verhindert freudvolle Erlebnisse im Alltag. Herr Bauer kann nichts Positives an seiner Situation erkennen, eine Hoffnung auf Besserung ist nicht in Sicht. Herr Bauer erlebt als leidvoll, dass er keinen Platz mehr in seiner gewohnten Welt hat; er verliert die Rolle als Familienvater, Großvater und ehemaliger Firmenchef; er fühlt sich nutzlos und möchte seiner Familie nicht zur Last fallen. Letztlich kann er keinen Sinn in seiner aktuellen Situation finden.
Wegen der bereits eingangs beschriebenen ansteckenden Natur von Leiden erleben alle, die beim Gespräch anwesend sind, diesen lähmenden Aspekt von existenzieller Verzweiflung, die tiefe Macht- und Hilflosigkeit.

Eine andere Sicht auf die aktuelle Lebenssituation entwickeln

Erfahrene Betreuungspersonen, die im Umgang mit existenziell leidenden Menschen geschult sind, können durch Gespräche häufig eine andere Sichtweise ermöglichen, sodass das Leiden als weniger intensiv wahrgenommen wird, mehr Freude empfunden werden kann und die Sterbewünsche oft verschwinden.
Durch derartige Gespräche kann Herr Bauer einen veränderten Umgang mit seiner Leidenssituation entwickeln. Er findet für sich zwar eine geänderte Rolle in der Familie, aber fühlt wieder seine tiefe Verbundenheit mit seinen Angehörigen. Besonders schätzt er die viele Zeit, die er mit seinen Enkeln verbringen kann. Er entdeckt, dass er sein Leben so doch mag. Die intensiven Sterbewünsche treten in den Hintergrund.

Ohnmacht aushalten und (er)tragen

Bei den Gesprächen mit Herrn Bauer und seiner Familie war die tiefe Macht- und Hilflosigkeit das vorherrschende, gemeinsame Gefühl. Meine jahrelange Beschäftigung mit existenziellem Leiden erleichterte mir, diese Lähmung in der gemeinsamen Ohnmacht zu (er)tragen, ohne meinem Impuls nachzugeben, eine Situation verändern zu wollen, die ausschließlich Herr Bauer ändern kann. Weitere Entlastung für das gesamte Mobile Palliativteam bot eine gemeinsame Reflexion unserer Aufgaben in dieser Betreuung.

Die Selbstbestimmung stärken, so gut es geht

Wir versuchten, ihm Gespräche anzubieten. Und wir erkannten, dass Herr Bauer in seiner Selbstbestimmtheit, die ihm so wichtig ist, Herr der Lage bleiben soll. In der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft werden alle Mitarbeiter*innen zum Thema des existenziellen Leidens umfassend geschult, weil das ungeschützte Erleben der ansteckenden Natur von Leiden vermehrt zu Burn-out und zur Erschöpfung des Mitgefühls führt (Cherny et al. 2015). Letzteres bedingt eine Verminderung der Betreuungsqualität. Schulungen zum existenziellen Leiden und die Reflexion der eigenen Endlichkeit ermöglichen mehr Verständnis für Sterbewünsche und die dahinterliegende existenzielle Verzweiflung. Weiters vermindert sich der ansteckende Effekt von Leiden. Dies führt zu mehr Arbeitszufriedenheit und zur Festigung der Fähigkeit, existenziell leidenden Menschen in Gesprächen sicher zur Seite stehen zu können.

Christoph Gabl, Leitender Arzt im Mobilen Palliativteam

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