Werner Mühlböck: „Der Staat sieht nicht mehr das Leben als höchstes Gut, sondern die Selbstbestimmung.“

Werner Mühlböck ist Geschäftsführer der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft. Im Tiroler Sonntag-Interview spricht er über die Rolle des Staates im Zusammenhang mit der sog. „Sterbehilfe“ und seiner Sorge, dass die Achtung vor dem Leben zunehmend an Wert verliert. Alarmierend sind etwa die Entwicklungen in den Niederlanden. Dort hat die Zahl der auf eigenen Wunsch von Ärzten getöteten Menschen 2020 ein neues Rekordniveau erreicht.

Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat für verfassungswidrig erklärt, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten. Das lässt dem Gesetzgeber einen großen Spielraum, festzuschreiben, was künftig erlaubt ist und was nicht. Worin sehen Sie im Rahmen der sog. „Sterbehilfe“ die Aufgabe des Staates?

Werner Mühlböck: Bisher war klar, dass die oberste Aufgabe des Staates darin besteht, Leben ab der Geburt zu schützen. Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes wurde diese Klarheit durchbrochen. Der Staat sieht nicht mehr das Leben als höchstes Gut, sondern die Selbstbestimmung jedes einzelnen. Mit dem Argument der freien Selbstbestimmung wird es ab 1.1.2022 in Österreich straffrei sein, Hilfe beim Suizid zu leisten. Die aktive Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen, und das Verleiten zur Selbsttötung bleiben jedoch weiterhin strafbar. Derzeit sind Juristen des Justizministeriums damit beauftragt, einen Gesetzestext zu erarbeiten, der die Durchführung einer straffreien Suizidhilfe regeln soll.

Wie sollten die gesetzlichen Rahmenbedingungen künftig ausgestaltet sein?

Mühlböck: Dies ist eine sehr schwierige Aufgabe, da es zum Beispiel sicherzustellen gilt, dass der Suizid auf dem freien Willen basiert und nicht unter Beeinflussung oder Druck von außen geschieht. Wie ist dies nachzuweisen? Es geht auch um die Frage, wie und mit welchen Mitteln ein solcher Suizid „würdig“ ablaufen kann. Dabei zeigt sich, dass sich hinter jeder scheinbaren Lösung neue Fragen und Unklarheiten auftun. Unserer Erfahrung nach braucht es gerade in der letzten Phase des Lebens ein Gefühl desAufgehoben-Seins, das Erfahren und Spüren von Zuwendung, Geborgenheit, Sicherheit und Hoffnung. Dies entzieht sich jeder gesetzlichen Regelung.

Trotzdem gilt es, Missbrauch zu erschweren und grundlegende Prinzipien sicherzustellen. Dazu zählen unter anderem der Schutz vulnerabler Gruppen – wie zum Beispiel Menschen mit Behinderung, Menschen mit Demenz oder Kinder – die Sicherstellung der Freiheit bei der Entscheidung über das eigene Lebensende oder auch den Schutz von  Mitarbeitern in helfenden Berufen, Suizidhilfe gegen die eigene Überzeugung leisten zu müssen.

Für grundlegende Begriffe wie „helfen“ oder „würdevoll“ gibt es keinen gemeinsamen Deutungsrahmen mehr. Wie erleben Sie die laufende Debatte während der Gesetzgebung?

Mühlböck: Beim Dialogforum des Justizministeriums ist mir aufgefallen, dass Begriffe wie Barmherzigkeit, Würde, Hilfe von allen in der Argumentation verwendet wurden, allerdings mit jeweils anderen Bedeutungsinhalten. Begriffe verwässern und werden hohl, wenn sie ihren eindeutigen Bezugsrahmen verlieren. Die Art, wie wir beispielsweise die Würde eines Menschen sehen, beeinflusst seine Wahrnehmung der eigenen Würde.

Alle Handlungen, die wir setzen, insbesondere eine Selbsttötung, haben Auswirkungen auf das Umfeld, auf die Gesellschaft. Die Vieldeutigkeit zeigt sich auch im Suizid selbst, der plötzlich als ein Recht, als etwas Positives und als Ausdruck einer freien Selbstbestimmung wahrgenommen wird. Ein Sterbewunsch ist für uns in der Hospizbewegung ein Hilfeschrei nach Zuwendung und nicht primär Ausdruck einer Selbstbestimmung, der es nachzukommen gilt.

Erfahrungen in anderen Ländern zeigen: je liberaler die Gesetze umso stärker ist der Anstieg an Suiziden. Was sind die Hintergründe für diese Entwicklung?

Mühlböck: Was sich überall zeigt, ist eine Art Gewöhnung an diese Form des Sterbens. Das erklärte Ziel vieler Befürworter ist die aktive Sterbehilfe, wie sie beispielsweise in den Niederlanden erlaubt ist. Mittlerweise sterben in den Niederlanden täglich 19 Menschen durch aktive Sterbehilfe. Mit 6.938 auf eigenen Wunsch von Ärzten getöteten Menschenwurde im Jahr 2020 ein neues Rekordniveau erreicht – mit einem Anstieg von neun Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die größte Gruppe der Getöteten sind Senioren. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen.

Seelsorgliche Begleitung ist für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fester Bestandteil jeglicher Begleitung von Sterbenden. Um gut sterben zu können: Wozu braucht es dafür Seelsorge?

Mühlböck: Weil das Leben nicht nur aus biologischen Abläufen besteht. Menschliche Lebensqualität hat neben der körperlichen auch eine psychologische, psychosoziale und spirituelle Dimension. Gerade rund um Tod und Sterben kommen essentielle Fragen unseres Lebens auf: Gibt es ein Danach? Was ist jetzt wichtig? Wir erleben auf unserer Hospiz- und Palliativstation eine zunehmende Orientierungslosigkeit von Patienten und Angehörigen, mit spirituellen Themen und Ritualen umzugehen. Gleichzeitig beobachten wir eine große Sehnsucht danach. Unsere Seelsorger gehen auf Patienten und Angehörige individuell ein. Sie ermöglichen einen Sinnbezug und eröffnen einen Blick über den Horizont hinaus. Das kann Hoffnung und Versöhnung ermöglichen oder Angst nehmen.

Ich sehe die Bedeutung der Seelsorge in unserem Bereich stark zunehmend. Dies vielleicht auch als Resultat einer beobachtbaren Tendenz zu Individualisierung und Säkularisierung in unserer Gesellschaft. Vielleicht liegen in diesen Entwicklungen auch die Hauptgründe für den Ruf nach Sterbehilfe.

Werner Mühlböck (57) ist Geschäftsführer der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft und Vorstandsmitglied im Dachverband Hospiz Österreich. Er hat Hospiz Österreich im „Dialogforum Sterbehilfe“ beim Justizministerium vertreten. Mühlböck hat Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Sozialmanagement, Führung und Gesundheitsökonomik studiert und war viele Jahre Leiter des Welthauses der Diözese Innsbruck.

Das Interview führte Gilbert Rosenkranz. Es ist am 24. Juni 2021 im Tiroler Sonntag erschienen.

Fotos: Tiroler Sonntag / Walter Hölbling

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