Abschiedsvortrag Elisabeth Medicus: Den Rucksack packen – Wege gehen für Palliative Care

Unsere langjährige Ärztliche Direktorin Elisabeth Medicus hat im Rahmen des Interprofessionellen Palliative-Care-Kongresses in Innsbruck folgenden Vortrag gehalten, der zugleich Ihr Abschiedsvortrag als ärztliche Direktorin der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft vor ihrem wohlverdienten Ruhestand war:

Trog mi wind! So hat der Chor der Vielfalt eben gesungen.

So leicht werden, dass einen der Wind tragen kann? Das geht mit schwerem Rucksack nicht. Den Text dieses Liedes hat eine kranke Frau geschrieben, Brigitte Hubmann, wohl als Zuspruch für sich selbst; wenige Tage nach ihrem Tod wurde der Text von Christian Dreo in das Lied gekleidet.

Bei uns ist es noch nicht so weit. Und doch möchte ich darüber reden, dass es auch für uns gut ist, leichten Schrittes zu gehen. Der Rucksack, den wir in Palliative Care brauchen, ist ein leichter Rucksack. Da sollte nicht zu viel drin sein und schon gar nichts Unnötiges.

Worauf kommt es an, in Palliative Care? Darüber möchte ich reden.

In den Rucksack gehört zuunterst die Erinnerung an das, was am Anfang gestanden ist: Mehrdimensionalität, Forschung, Betroffenenorientierung. Wir stehen da in einer langen Tradition. Verbinden wir uns, immer wieder, mit dem Ursprung, mit dem, was die Pionierinnen und Pioniere dieser Arbeit uns hinterlassen haben.

Wir brauchen die Kreativität des Anfangs, den Mut, gutes Altes zu verwenden, dies zu modifizieren, es wieder neu zu versuchen. Abenteurergeist, Entdeckergeist und Neugier sind die Zutaten – auch Forschung ist ein Aspekt davon. Das führt zu einer bunten schöpferischen Vielfalt des Tuns.

Und wir sollten auch nicht vergessen, wie privilegiert wir sind, im Feld von Palliative Care zu arbeiten, beizutragen zu etwas wirklich Wichtigem und Patienten betreuen zu können, die so geduldig und großzügig in ihrer Dankbarkeit sind, lernen zu dürfen, wie kostbar Lebenszeit ist.

Manchmal wird das Eigene, das Besondere an Palliative Care so beschrieben: dass wir als Team arbeiten, das ganzheitliche Betreuung anbietet, oder, dass wir mit dem Tod zu tun haben, oder weil wir den Patienten gegenüber besonders wahrhaftig sein wollen, und gute Kommunikation ins Zentrum von allem gerückt haben. Das gilt auch für viele andere Fachgebiete.

Das Besondere an Palliative Care ist es, dass wir täglich an das Gute in jedem Menschen erinnert werden, das es wert ist, aufgespürt und genährt zu werden bis zuletzt.
Dass menschliches Wachstum sich aus Schwierigem, Tragischem entwickeln, dass Glück sich aus Traurigkeit entwickeln kann.
Menschen können mit Verlusten leben, sogar daran wachsen, Menschen können mit Unsicherheit leben, vorausgesetzt sie werden respektiert und fühlen sich angenommen.

Im Grunde geht es in Palliative Care – einfach, möchte ich sagen – darum, einen heilsamen Raum zu gestalten, in dem Menschen bis zuletzt wachsen können, einen Raum, in dem sie das Unausweichliche in die eigene Lebenseinstellung integrieren können.

In heilsamen Räumen fühlen Menschen sich „wie daheim“, auch dann, wenn es denn das eigene Zuhause nicht sein kann.
Mit daheim verbinden wir einen Ort, wo wir uns sicher fühlen, einen Ort, den wir gestalten können und wo man sich umeinander sorgt.

Tragt do Wind mi gach hoam-zua – heißt es im Lied.
Und weiter: Kannst nix machn, muastes nehmen, hot wol ols an Grund.

Ein Zuspruch auch dies für uns: „es hot ols an Grund“ – unter dem schwankenden Boden des Lebensendes gibt es einen Grund; so ist das wohl gemeint in dem Lied, wenn in der Altstimme der Grund ausgelotet wird mit immer tiefer werdenden Tönen.

Was ist dieser Grund? Es ist das, was bleibt, wenn ein Mensch stirbt. Wie dieses Lied.
Menschen, die in Palliative Care arbeiten, brauchen eine Wahrnehmung für das innere Jenseits in jedem Menschen, für das Bleibende, für die Wirkkraft und die Möglichkeiten der geistigen Welt. Das, nicht mehr, aber auch nicht weniger ist Spiritualität.

Und damit will ich nicht sagen, evidenzbasiertes Wissen sei nicht wichtig: es ist wichtig. Denn das ist unser basales Werkzeug, um Sicherheit und damit auch Halt zu geben, so gut es eben geht auf dem schwankenden Boden am Lebensende.
Manchmal heißt das einfach, dass wir Platz machen, oder Platz schaffen etwa für die Angehörigen als die Lebensbegleiter bis zuletzt.

Was würde den Rucksack unnötig beschweren, was ist zurück zu lassen?

„Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld“, so schreibt Franz Kafka, „ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.“

Gegenüber professioneller Enttäuschung, Desillusionierung und Gleichgültigkeit rund um uns brauchen wir eine gewisse Immunität. Immunität erwirbt man, wie wir wissen, mit Exposition und man erhält sie mit guter Sorge um sich selbst. Vor allem dafür ist die Selbstsorge tatsächlich nötig.

Je mehr wir sind im multiprofessionellen Team, umso mehr besteht die Versuchung, alles, was nicht unmittelbar mit unserem Kerngeschäft zu tun hat, zu delegieren und sich mit Territorialismen zu befassen. Dass jeder auf dem Seinen in der Profession und Disziplin besteht.
Oder dass in einer falsch verstandenen Interprofessionalität alle alles tun, sodass die Kompetenzen der anderen und die eigenen Kompetenzen zu wenig zum Tragen kommen und genutzt werden.

Wir müssen auch der Verführung durch die hohe Wertschätzung, die Hospizarbeit und Palliative Care derzeit bekommen, widerstehen und uns die Begeisterung für das Thema bewahren. Ich hoffe sehr, dass Palliative Care nicht ein weiteres Beispiel von Beschäftigung mit sich selbst und Eitelkeit wird, für das irgend jemand persönliche Anerkennung beansprucht.

Wenn jemand sich Gedanken macht, wie es mit Palliative Care weiter geht, dürfen wir erinnern: Palliative Care ist gegründet auf eine großzügige Tradition des Tröstens ebenso wie auf solides Wissen – wenn wir uns darauf beziehen, geht es weiter. Dann müssen wir uns nicht sorgen um die Zukunft der palliativen Versorgung.

Wohin gehen wir mit dem leichten Rucksack, in den nichts Unnötiges gepackt wurde?

Ich zitiere wieder Franz Kafka: „Wege, die in die Zukunft führen, liegen nie als Wege vor uns. Sie werden zu Wegen erst dadurch, dass man sie geht.“

Im Gehen machen wir uns also in ein Unbekanntes auf. Mutig und flexibel, um schnell zu reagieren, wenn es uns braucht, rasch einschätzend, wer die Hilfe am Dringendsten braucht.

Die Orientierung auf dem Weg ist nicht die Erfüllung von Standards, nicht das Erreichen von Zielen, nicht die Projekte, das alles sind probate Mittel.
Es gibt nur EINE Orientierung, nämlich das, was die Betroffenen wirklich brauchen. Erfahren können wir die nur im unermüdlichen Fragen: Was brauchen Sie jetzt am meisten? Was muss ich von Ihnen wissen, damit ich Sie gut betreuen kann? Erzählen Sie mir doch von Ihrem Schmerz.

Ein Vorbild, wie das geht, ist mir da auch Gerassim. Er kommt in der Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Leo Tolstoi vor als Diener Iwan Iljitschs. In einer Atmosphäre der Lüge, der Beschönigung und der Beziehungslosigkeit ist Gerassim die einzige Ausnahme. Er ist ein einfacher gütiger Mensch vom Land.

„Einzig Gerassim log niemals; er allein … hatte begriffen, um was es sich handle… Und einmal sprach er es sogar direkt aus, als Iwan Iljitsch ihn fortschicken wollte: „Alle werden wir sterben. Warum sich nicht ein bisschen Mühe geben?“
Das sagte er und drückte damit wohl aus, dass die Mühe ihm darum nicht lästig fiele, weil er dies alles da für einen Sterbenden täte und hoffte, dass einst, wenn ihm sein Stündlein schlüge, jemand ihm ein Gleiches erweisen würde.“

Ich glaube, wir werden in ein paar Jahren danach beurteilt werden, wie wir unser Fertigkeiten und Einsichten mit den Betroffenen und den Kollegen in anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens so geteilt haben, dass qualitätsvolle palliative Betreuung überall selbstverständlich geworden ist. Auch an sie sollten wir die Frage stellen: Was braucht ihr von uns?
Wenn uns das nicht gelingt, dann haben wir wohl zu einer Care-Philosophie für Privilegierte beigetragen und Programme für Privilegierte geschaffen. Doch das ist zu wenig. Deshalb ist der Weg, den wir zu gehen haben, ein öffentlicher Weg in guter Verbindung mit öffentlichen Einrichtungen.

Es ist noch zu tun, bis Palliative Care in diesem Sinn Teil des Gesundheitswesens geworden ist, bis Krankenhäuser und Pflegeheime überall heilsame Räume für das Lebensende vorhalten können.

Im Buch Jesaja heißt es – poetisch und kraftvoll und als Auftrag:
„… und soll durch dich gebaut werden, was lange wüst gelegen ist; und wirst Grund legen, der für und für bleibe; und sollst heißen: Der die Lücken verzäunt und die Wege bessert, daß man da wohnen möge.“

Dafür braucht es uns alle.

Ich komme zum Schluss: Es gibt eine große Sehnsucht der Menschen nach Alternativen zu dem, was sie im Gesundheitswesen häufig vorfinden, wenn sie krank sind, aber auch als Betreuende: als Studierende in den Universitäten und Fachhochschulen, als Ärzte und Ärztinnen, von der Pflege ganz zu schweigen. Die Hospizbewegung und Palliative Care haben die Kraft, eine Antwort zu geben auf diese Sehnsucht, an den Grund zu erinnern, Lücken zu verzäunen, Wege zu bessern.

Wenn der Kongress gleich vorbei ist, ist hoffentlich auch durch ihn etwas, das auf diese Sehnsucht auf die eine oder andere Weise antwortet, bleibend in die Welt gekommen. Denn wenn etwas zu Ende geht – das Leben geht weiter, angereichert durch das Vergangene für das Kommende. Das Vergehen bereitet den Weg für das Werden.
Schön, dass Ihr Sängerinnen und Sänger vom Chor der Vielfalt uns da begleitet, denn Musik stimmt uns auf besondere Weise auf das Werden und Vergehen ein, sie macht die Einheit von Zeit und Augenblick bewusst und nimmt uns hinein in die Bewegung von Werdezeit. Lassen wir uns heimzu tragen vom Lied.

Elisabeth Medicus, 30. März 2019, 7. Österreichischer Interprofessioneller Palliative-Care-Kongress

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