Die Freiheit, sich am Kopf zu kratzen

Freiheit
„Wann ist es noch im Sinne des Patienten, ihn mit allen medizinischen Maßnahmen am Leben zu erhalten?“ Elisabeth Ziegler-Duregger

Er liegt seit Tagen im Krankenhaus. Das Altersheim, in dem er seit 8 Jahren lebt, hat ihn nach dem zweimaligen Sturz aus dem Bett dorthin überwiesen. Er ist sehr schwach und hält die Augen meist geschlossen. Die Finger sind um die Gitter neben dem Bett gekrampft und eiskalt. Der Atem geht pfeifend und durch den geöffneten Mund. Mit heftigen Kopfbewegungen weist er Wasser und Essen zurück. In regelmäßigen Abständen drehen die Schwestern den steifen Körper auf die andere Seite. Er bekommt keine Besuche, da die wenigen Verwandten weit weg wohnen und auch nicht wissen, dass er im Krankenhaus liegt. Ein freiwilliger Helfer aus dem Altersheim und ich sind die einzigen, die regelmäßig am Bett sitzen und durch unsere Anwesenheit die Notwendigkeit des Anbindens der Hände an die Gitter für eine kurze Zeit aufheben. Nur dann ist es möglich, dass er sich am Kopf kratzen kann, oder die juckende Nase reibt.

Die selten geöffneten Augen blicken in eine unendliche Ferne

Er hat das starke Bedürfnis sein Hemd auszuziehen und nutzt jede Befreiung der Hände dazu, sich die Decke von den Beinen zu streifen und an der Windel zu zerren. So lange es geht, liegt er nackt da, bis Schwestern den aussichtslosen Kampf wieder aufnehmen, ihm ein neues Hemd anzuziehen. Das macht ihn sehr zornig und die Rufe dringen bis auf den Gang. Inzwischen liegt er in einem Einzelzimmer. Seine Arme sind von Infusionsnadeln zerstochen. Auf der Brust klebt ein Pflaster, das die Schmerzen lindern soll. Die nur selten geöffneten Augen blicken in eine unendliche Ferne.

Welche Krankheit wäre die Erlaubnis zum Tod?

Ich versuche den Ärzten und Schwestern zu erklären, dass es meiner Meinung nach nicht im Sinne des Patienten ist, ihn mit allen medizinischen Möglichkeiten am Leben zu halten. Da ich nicht verwandt bin kann ich keine Entscheidungen beeinflussen. Das einzige Zugeständnis ist die Versicherung, dass bei Atemstillstand keine Reanimation erfolgen soll, dass aber der ärztliche Eid es verlangt, dass er künstlich ernährt wird und Medikamente erhält. Er soll nicht an einer Lungenentzündung sterben, wird mir versichert.

Ich überlege, welche Krankheit ihm die Erlaubnis zum Tod geben könnte? Ich bekomme große Angst vor ähnlichen Erlebnissen wenn ich krank bin. Wie würde ich mich verhalten, wenn mein eigener Vater dort liegen müsste?

Was könnte beim Sterben helfen?

Inzwischen vergehen die Tage in gleichmäßigem Rhythmus des medizinischen Betriebes. Am heiligen Abend zünde ich eine kleine Kerze an und gebe ihm einen weichen kleinen Weihnachtsengel in die Hand, der sonst am Gestänge über dem Bett befestigt ist. Er streicht mit ihm um sein Kinn und weint, dass die Tränen über die Wangen rinnen. Am nächsten Tag sehe ich ihm zu, wie er vergeblich versucht, sich aufzurichten. Aus den undeutlichen Worten kann ich heraushören, dass er weg will. Ich versuche ihm zu sagen, dass ich seine Sehnsucht verstehe. Ich weiß einfach nicht, was ihm beim Sterben helfen könnte oder was ihn daran hindert. Sind es die medizinischen Maßnahmen oder innere Widerstände gegen den Tod?

Ich kann nur am Bett sitzen und ihm für eine Stunde die Freiheit gewähren, sich am Kopf zu kratzen…

Zwei Tage nach Weihnachten werde ich um 6 Uhr morgens vom Krankenhaus verständigt, dass er gerade verstorben ist. Ich bin so schnell als möglich dort und fühle noch den warmen Körper, ich bin dankbar dass er nun frei ist, dort zu sein, wo er immer am glücklichsten war und was er im Altersheim am meisten vermisst hat, seine Alm und den Geruch von Kühen.

Elisabeth Ziegler-Duregger, Leiterin Stadtbücherei Lienz und Autorin

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www.ziegler-duregger.com
trostindertrauer.wordpress.com

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