Tagebuch
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Stimmen aus dem Hospiz – Andrea Webhofer
Eine Patientin beschrieb im Bewusstsein, dass sie bald sterben werde, ihre Situation so:„…als wenn ich in einem Schwimmreifen einen Fluss hinunter treiben würde, je nach Strömung manchmal schneller und dann wieder langsamer. Der Schwimmreifen hat kleine Löcher, die immer wieder geflickt werden, und dann gibt es aber wieder neue.
Wir sollten alles tun, um Schmerzen, um das Leiden zu verringern.
„Diese Schmerzpumpe da nimmt mir den körperlichen Schmerz. Den seelischen kann mir keiner nehmen“, sagt mir Herr M. Ich frage nach, woran seine Seele leidet? Herr M. sagt mir: „Dass ich heute an diesem Karsamstag hier am Hospiz bin und Ostern nicht mit meiner Familie feiern kann. Die Krankheit schreitet voran, der Tod rückt näher. Es tut so weh, meine Frau, meine Kinder und Enkelkinder zurückzulassen“.
Trösten, nicht vertrösten

"Vom Himmel zu reden ist mir jetzt schier unmöglich. Eigentlich ist mir zum Schreien zumute. Ich habe keinen Trost parat."
Über die trostspendene Kraft der Seelsorge
Frau F. liegt in ihrem Zimmer auf der Hospiz- und Palliativstation in Innsbruck. Ihre Kinder (13 und 15 Jahre) und ihr Ehemann sind da. Die Kinder haben soeben erfahren, dass ihre Mutter unheilbar krank ist, dass sie bald sterben wird.
Tiefes Schweigen
Stille. Tiefes Schweigen durchzieht den Raum. Langsam, zögernd fangen die Kinder mit Hilfe des Vaters an zu reden. Sie erzählen vom Leben der Mutter. In letzter Zeit mussten sie alle öfters mit anpacken beim Kochen, Waschen und Bügeln. Die Mutter gab die Anweisungen. Das meiste gelang. Eigentlich ging nur weniges daneben.
Wie vom Himmel reden?
Vom Himmel zu reden ist mir jetzt schier unmöglich. Eigentlich ist mir zum Schreien zumute. Ich habe keinen Trost parat. Ich höre, rede, klage mit ihnen. Die Kinder berühren die Mutter, streicheln ihre Hände. Sie reden mit ihr, obwohl sie kaum reagiert. Sie sagen, was ihnen so kommt.
Innere Festigkeit
Das Wort Trost – aus dem Altgermanischen – meint eigentlich „innere Festigkeit“ geben. Jetzt, wo es ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht, kann mein Da-Sein Halt geben. Mit ihnen gemeinsam die Stille, die Fragen, die Verzweiflung aushalten. Ich will nicht „vertrösten“. Laut Duden bedeutet vertrösten: „durch das Erwecken von Hoffnung hinhalten“. Ich will jetzt nicht falsche Hoffnung wecken, davon reden: „Alles wird gut. Der Himmel erwartet sie“. Jetzt nicht!
Gutes zusprechen
Einige Zeit verstreicht. Schließlich sage ich: „Ich will eurer Mutter was Gutes tun. Ich will sie segnen“. Segnen kommt vom lateinischen Wort: „benedicat“ – Gutes sagen, Gutes zusprechen. „Sie und wir alle brauchen jetzt Kraft für die nächsten Schritte, die anstehen. Vertrauen wir uns einer höheren Kraft an“. Ich tauche ein in das Weihwasser, setze ein Kreuzzeichen auf die wichtigen Stellen ihres Körpers: Stirn, Mund, Brustkorb, Hände, Füße. Dieser kranke geschundene Körper, ihr ganzes Leben, so wie es ist, hat Würde vor Gott. Sie ist sein Abbild, auch weil sie gerade krank ist, leidet.
Die Mutter segnen
Ich lade die Kinder und den Ehemann ein, die Mutter zu segnen. Sie tun es, zaghaft, vorsichtig. Und – mit Hilfe unserer Hände – taucht auch die Mutter ein in das geweihte Wasser. Sie hält ihre Hand über die zu ihr gereichten Hände der Kinder und des Ehemanns.
Einen Monat später frage ich Herrn F., was ihm in dieser schweren Zeit geholfen hat. Er sagt: „Dass die Kinder den Weg des Abschieds mitgegangen sind, dass wir viel geredet und uns gegenseitig gesegnet haben“.
Christian Sint, Seelsorger auf der Hospiz- und Palliativstation Innsbruck