Spiritual Care leben

„Ich fühle mich hier am Abstellgleis“ sagt Frau F., eine Patientin, zum Pflegenden der Palliativstation. Wenig später sagt sie es zu Ärztin, dann zur Sozialarbeiterin. Wie hören Mitarbeitende solche Aussagen? Meistens als Appell, der da lautet: „Die Patientin will, dass was getan wird“. Mein Plädoyer: Solche oder ähnliche Aussagen müssen vielschichtig, auch spirituell gehört werden. Im Blick auf Frau F. etwa so: „Ich fühle mich abgeschoben, verlassen, wertlos. Die Kraft, die mich einst trug, fließt nicht mehr“.

In Hospizarbeit und Palliative Care besteht inzwischen ein breiter Konsens, dass alle Mitarbeitenden religiöse und spirituelle Bedürfnisse bei der Betreuung berücksichtigen sollten. Zugleich gibt es Unsicherheiten, was mit Spiritualität, mit spiritueller Betreuung oder mit Spiritual Care gemeint und wer dafür zuständig ist. In meiner Masterarbeit[1] bin ich der Frage nachgegangen, wie helfend Tätige in ihrem beruflichen Alltag Spiritual Care konkret leben.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weist in ihrer Definition von Palliative Care darauf hin, dass es dabei um „frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen auf körperlicher, psychosozialer und spiritueller Ebene“[2] geht.

Aber: Wie lässt sich die spirituelle Seite eines Menschen finden? Wie hören und verstehen? Wie sprachlich ausdrücken?

In meiner Masterarbeit bin ich der Forschungsfrage nachgegangen, wie in Hospizarbeit und Palliative Care Gesundheitsberufe und helfend Tätige Spiritual Care leben.

Dazu habe ich die Literatur gesichtet und sieben Interviews durchgeführt.

Auch für Betreuende im Hospiz- und Palliative-Care-Bereich hat sich bestätigt, was im Whitepaper der European Association for Palliative Care (EAPC)[3] aus dem Jahr 2020 für Gesundheitsberufe festgehalten ist: Was mit Spiritualität und spiritueller Betreuung gemeint ist, das ist immer noch schwierig zu verstehen. Darüber hinaus gibt es Unsicherheiten, wer auf welche Weise für Spiritual Care zuständig ist und Spiritual Care gestaltet.

Dies sind die zentralen Ergebnisse der Arbeit:

Spiritualität wird als schwer fassbar, aber spürbar erlebt.

Die meisten Interviewten gaben an, dass die spirituelle Dimension gegenüber der körperlichen, psychischen und sozialen Dimension weniger zugänglich ist und sprachlich schwerer ausgedrückt werden kann. Die befragte Sozialarbeiterin brachte es auf den Punkt: Spiritualität ist „am schwierigsten fassbar, aber am meisten spürbar“. Auch deshalb stoßen Mitarbeitende in ihrer Ausgestaltung von Spiritual Care immer wieder an Grenzen. In der Fachliteratur zu Spiritual Care sowie in den durchgeführten Interviews ist öfters die Rede von einer respektvoll-demütigen Haltung der Mitarbeitenden gegenüber den zu Begleitenden.

Spiritualität zeigt sich vielfach indirekt und in einer symbolischen Sprechweise.

Auffallend war: Im direkten Erzählen von besonderen Ereignissen, von unvergesslichen Begegnungen mit Patient:innen kommt Spiritualität am stärksten zu Wort. Dabei wurden Worte wie „Tiefe, Sinn, Dankbarkeit, Göttlichkeit oder Gott“ verwendet. Spiritualität zählt nicht, sondern erzählt.

Glaube und Spiritualität erinnern letztlich an die Unverfügbarkeit des Lebens[4]. In der Begleitung von Menschen „berühren“ helfend Tätige das Geheimnis des Lebens[5] von Menschen. Sie „erfassen“ es eben nicht. Sie können „Geheimnis Geheimnis“ sein lassen.

Spiritual Care berücksichtigt religiöse und spirituelle Bedürfnisse.

In der deutschsprachigen Spiritual Care Literatur wird von spirituellen Bedürfnissen gesprochen. Diese beinhalten selbstverständlich auch religiöse Bedürfnisse, aber nicht immer. Selten, aber doch, wird argumentiert, Spiritual Care sei – aus Gründen einer Religionsneutralität – nur für spirituelle, nicht aber für religiöse Aspekte zuständig. Die von mir befragten Helfenden als auch die Schweizerischen Leitlinien zur interprofessionellen Praxis von „Spiritual Care in Palliative Care“[6] meinen, in Spiritual Care gelte es, beides, d.h. spirituelle und religiöse Aspekte zu berücksichtigen. Die Schweizer Leitlinien nennen religiöse und spirituelle Bedürfnisse in einem Atemzug und immer gemeinsam.

Die Mitarbeitenden selbst müssen nicht religiös in dem Sinne sein, dass sie einer Glaubensgemeinschaft angehören. Das sagen die befragten Helfenden der Palliativstation. Sie sollten aber spirituell bzw. offen gegenüber religiösen-spirituellen Aspekten sein. Eine der befragten Helfenden der Palliativstation drückt es wörtlich so aus: „Da muss nicht jemand hochkatholisch oder was auch immer sein, sondern spirituell. Diese Ebene muss man mitbringen“.

Spiritual Care wird „gelebt“.

Spiritualität „lebt nicht nur vom Tun, sondern ebenso vom Sein und Wahrnehmen“[7]. Sie ist keine planbare Technik. „Im Grunde lebst du das“, sagte eine der interviewten Personen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Spiritual Care in verschiedensten Publikationen mit den Verben tun, machen, gestalten, einbeziehen, umsetzen oder implementieren benannt wird. Das Verb leben in Verbindung mit Spiritual Care fand ich in den Publikationen nicht, aber sehr wohl in den Interviews von drei der Befragten und dies gleich mehrmals. So wird Spiritual Care etwa gelebt in der Art, wie Räume gestaltet werden, im Umgang mit Patient:innen und Mitarbeitenden, in Teamsitzungen und Ritualen.

Spiritual Care wird unterschiedlich und ähnlich gelebt.

Wie Spiritual Care „gelebt“ wird, hängt wesentlich von der Haltung der Mitarbeitenden ab, aber auch von ihren Rollen und Kompetenzen und von der Profession. Die verschiedenen beruflichen Rollen haben – neben anderen Faktoren – einen entscheidenden Einfluss, auf welche Weise Spiritualität in den Begleitenden zum Fließen kommt. Dies macht der interviewte Seelsorger an einer eindrücklichen Begebenheit deutlich. An der befragten Palliativstation gab es einen Patienten mit Tracheostoma. Damit dieser rauchen konnte, hielt ihm jeder vom Team einmal die Zigarette zum Tracheostoma hin. Auch der Seelsorger tat es. Als dieser sich vom besagten Patienten verabschiedete, sagte der erkrankte Mann zu ihm: „Das war jetzt meine Friedenpfeife mit Gott“. Diese Aussage tätigte der Patient einzig beim Seelsorger, bei dem er Themen wie Religion, Glaube, Gott aufgehoben wusste. Das bedeutet für Spiritual Care: Jede/r kommt mit seiner/ihrer Rolle zu Patient:innen und damit entsteht eine je andere Felddynamik.

Gesundheitsberufliche und seelsorgliche Spiritual Care ist zu unterscheiden.

Vereinfacht gesagt: Bei den Gesundheitsberufen ist die spirituelle Dimension im Hintergrund, während sie bei Seelsorgenden im Vordergrund ist. Alle Gesundheitsberufe und helfend Tätigen berücksichtigen religiös-spirituelle Bedürfnisse der zu Begleitenden, gehen aber – gemäß ihrer persönlichen Eigenart und beruflichen Rolle – unterschiedlich mit ihnen in Resonanz. Eine seelsorgliche Spiritual Care würdigt Religiosität und Spiritualität professionell aus einem Glaubenshintergrund und in einem transzendenten Horizont.

Spiritual Care ist eine Haltung.

Sie lebt und gestaltet aus einem „inneren Geist“. Das Wort Haltung kam in den Interviews sechsundfünfzig Mal vor. Spiritual Care als Haltung zeigt sich in Werten wie Achtsamkeit, Mitgefühl, Hoffnung, Zuversicht, Liebe, Glauben, Vertrauen, in der Bereitschaft, den Menschen und nicht nur seine Krankheit zu sehen, im Vermitteln von Geborgenheit, in Offenheit, in der Bereitschaft, Zeit zu verschenken und im nonverbalen Ausdruck.

Spiritual Care lebt von Teamarbeit und ständiger Reflexion und ist lernbar.

Spiritual Care ist Aufgabe aller Mitglieder eines Hospiz-Palliativteams. Innerhalb der Hospiz-Palliativteams bedarf es einer ständigen Reflexion und eines Austausches, wer auf welche Weise Spiritual Care praktiziert. Den Seelsorgenden kommt als Fördernden einer Spiritual Care-Kultur und bei der Klärung von Rollen innerhalb von Spiritual Care eine Schlüsselrolle zu, indem sie und andere Mitglieder des Teams Spiritual Care vorleben. Ein wichtiges Lernfeld sind auch Gespräche und Austausch sowie die Aus- und Weiterbildung, in der beispielsweise symbolische Kommunikation mit Patient:innen konkret eingeübt wird.

Spiritualität findet im normalen Alltag und in allen Begegnungen statt.

Der interviewte Arzt drückt es so aus: „Spiritual Care ist nichts Abgehobenes. Spiritual Care ist nicht etwas, wo eine/r mindestens zehn Jahre Ausbildung haben und Erfahrung und überall bibelfest und sattelfest sein muss. Es ist etwas, wo man nicht Angst haben muss, sondern was einfach im Alltag eh stattfindet und wo man manchmal sich bewusst sein muss, dass man wahrscheinlich eine Spiritual-Care-Dimension auch lebt, der man sich nicht bewusst ist“.

Seminare zu Spiritual Care: Meine Kollegin Romana Thurnes und ich bieten über die Bildungsakademie der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft immer wieder Seminare zu Spiritual Care an. Dabei üben wir mit Mitarbeitende aller Berufsgruppen anhand von Praxisbeispielen – wie dem eingangs erwähnten –, wie sie mit spirituellen Aussagen von Patient:innen in Resonanz gehen können. Zugleich werden Wege aufgezeigt, wie sie Spiritual Care, basierend auf ihrer Biographie und Eigenart, Rolle und Kompetenz im Berufsalltag leben können.

Mag. Christian Sint MSc, seit 2008 Seelsorger Tiroler Hospiz-Gemeinschaft

Dieser Beitrag wurde von Christian sind für den Newsletter des LIV (Landesinstitut für integrierte Versorgung Tirol) verfasst. Hier können Sie den Newsletter auf der Website des LIV nachlesen!

[1] Sint, C.; (2023). Spiritual Care leben. Zur Bedeutung von Haltung, Rolle(n) und professionsspezifischen Kompetenzen einer spirituellen Begleitung in Hospizarbeit und Palliative Care. Master Thesis zur Erlangung des Masters in Palliative Care an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg.

[2] WHO (2002). Definition of Palliative Care. Verfügbar unter: https://www.dgpalliativmedizin.de/images/stories/pdf/WHO_Definition_2002_Palliative_Care_englisch-deutsch-2.pdf [26.05.2023].

[3] Best, M.; Leget C.; Goodhead, A.; Paal, P. (2020). An EAPC white paper on multi-disciplinary education for spiritual care in palliative care. Verfügbar unter: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31941486/. [07.02.2023).

[4] Vgl. Rosa, H. (2020). Unverfügbarkeit (7.Aufl.). Berlin: Suhrkamp Verlag.

[5] Weiher, E. (2009). Das Geheimnis des Lebens berühren. Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

[6] Palliative ch (2018). Spiritual Care in Palliative Care. Leitlinien zur Interprofessionellen Praxis. Verfügbar unter: Leitlinien_Spiritual_Care_in_Palliative_Care-2018.pdf (spitalseelsorge.ch) [02.02.2023].

[7] Peng-Keller, S. (2015). Spiritual Care-sorgende und kontemplative Praxis. In Spiritual Care: Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen, B.4, H. 1, 86, Berlin/Boston: Verlag Walter des Gruyter.

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