Leid ist ansteckend

Kernaufgabe von Hospiz-und Palliativbetreuungen und gleichzeitig eine der größten persönlichen Herausforderungen für die Mitarbeiter*innen liegt in der Begleitung von Menschen mit schwerem seelischem Leiden.

Dieses ist strikt von einer Depression zu unterscheiden und medikamentösen Therapien nicht zugänglich. Daher sind diese Menschen auf kompetente Betreuungspersonen angewiesen, die ihnen und ihren Angehörigen zur Seite stehen, damit sie einen inneren Weg aus der Leidenssituation finden können.

„Leiden“ erklärt der Existenzanalytiker Alfried Längle mit folgendem Bild: Schmerzen der Seele (Längle und Bürgi 2016). Das Wahrnehmen des Leidens anderer Menschen hat ansteckenden Charakter. In diesem Fall erleben Betreuungspersonen selbst aufgrund zwischenmenschlicher Prozesse die gleichen Leiderfahrungen, die gleichen Schmerzen der Seele, wie die erkrankten Menschen.

„Existenzielles Leiden“ entsteht laut Alfried Längle dadurch, dass die Bedingungen für ein gutes Leben verloren gehen. Bislang lebenstragende Inhalte des Daseins und somit das Sicherheit gebende Fundament der Existenz werden zerstört. Die Betroffenen beschreiben diese Erfahrung so, dass ihnen durch die Diagnose der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei. Typischerweise geht schweres existenzielles Leiden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Sterbewunsch einher.

Ein Mensch, der bleibenden Eindruck durch sein schweres existenzielles Leiden bei mir hinterlassen hat, ist Herr B.. Er lebt mit seiner Ehefrau, seinen drei Kindern und vier Enkeln im gleichen Haus, und hat bis zum 76. Geburtstag mit viel Erfolg den eigenen Tischlereibetrieb mit 15 Angestellten geleitet. Ich lerne Herrn B. in seinem 84. Lebensjahr kennen. Drei Jahre zuvor erkrankte er an einem bösartigen Tumor, nach zwei Jahren sind Metastasen aufgetreten. Im Augenblick belastet ihn seine körperliche Schwäche, weshalb er geliebte alltägliche Tätigkeiten unterlassen muss.

Der Wunsch nach Verkürzung seines Lebens, also sein Sterbewunsch, ist sehr ausgeprägt. Im Internet hat er gelesen, dass durch vollständigen und freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit der Sterbeprozess beschleunigt werden kann. Die Durchführung eines Assistierten Suizids sieht er als weitere, hilfreiche Möglichkeit an.

Alle Familienmitglieder möchten den Sterbewunsch von Herrn B. unterstützen, weil sie seine ausgeprägt leidvolle Situation wahrnehmen. Die Ehefrau und ein Sohn, die die mögliche Durchführung einer Lebensverkürzung als persönlich belastend erleben, fragen mehrfach nach dem zeitlichen Verlauf der Erkrankung ohne aktive Lebensverkürzung. Dem dringenden und fast verzweifelten Wunsch von Herrn B. nach Lebensverkürzung muss die schwere psychische Belastung der Angehörigen durch ein derartiges Vorgehen gegenübergestellt werden; es ist bekannt, dass die Durchführung einer Lebensverkürzung, beispielsweise durch einen Assistierten Suizid, gehäuft zu posttraumatischen Belastungsstörungen, komplizierterer Trauer und Angststörungen bei den Angehörigen führen kann (Wagner et al. 2012).

Wir besprechen, dass der Auslöser von Sterbewünschen fast immer die existenzielle Leiderfahrung der Erkrankten ist. Die Medizinethikerin Claudio Bozzaro beschreibt vier belastende Phänomene von Leiden (Bozzaro 2015). Sie machen das Erleben von Herrn B. verständlich.

Er erlebt sich als Sklave seines eigenen Körpers, sein geschwächter Körper verhindert freudvolle Erlebnisse im Alltag.

Herr B. kann nichts Positives an seiner Situation erkennen, eine Hoffnung auf Besserung ist nicht in Sicht.

Herr B. erlebt als leidvoll, dass er keinen Platz mehr in seiner gewohnten Welt hat; er verliert die Rolle als Familienvater, Großvater und Firmenchef; er fühlt sich nutzlos und möchte seiner Familie nicht zur Last fallen.

Letztlich kann er keinen Sinn in seiner aktuellen Situation finden.

Wegen der bereits eingangs beschriebenen ansteckenden Natur von Leiden erleben alle, die beim Gespräch anwesend sind, diesen lähmenden Aspekt von existenzieller Verzweiflung, die tiefe Macht- und Hilflosigkeit.

Erfahrene Betreuungspersonen, die im Umgang mit existenziell leidenden Menschen geschult sind, können durch Gespräche häufig eine andere Sichtweise ermöglichen, sodass das Leiden als weniger intensiv wahrgenommen wird, mehr Freude empfunden werden kann, und die Sterbewünsche oft verschwinden.

Durch derartige Gespräche kann Herr B. einen anderen Umgang mit seiner Leidenssituation und somit mehr Lebensqualität finden, die intensiven Sterbewünsche treten in den Hintergrund.

Bei den Gesprächen mit Herrn B. und seiner Familie war die tiefe Macht- und Hilflosigkeit das vorherrschende, gemeinsame Gefühl. Meine jahrelange Beschäftigung mit existenziellem Leiden erleichterte mir, diese Lähmung in der gemeinsamen Ohnmacht zu (er)tragen, ohne meinem Impuls nachzugeben, eine Situation verändern zu wollen, die ausschließlich Herr B. ändern kann. Weitere Entlastung für das gesamte Mobile Palliativteam bot eine gemeinsame Reflexion unserer Aufgaben in dieser Betreuung. Wir versuchten, ihm Gespräche anzubieten. Und wir erkannten, dass Herr B. in seiner Selbstbestimmtheit, die ihm so wichtig ist, Herr der Lage bleiben soll.

In der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft werden alle Mitarbeiter*innen zum Thema des existenziellen Leidens umfassend geschult, weil das ungeschützte Erleben der ansteckenden Natur von Leiden vermehrt zu Burnout und zur Erschöpfung des Mitgefühls führt (Cherny et al. 2015); letzteres bedingt eine Verminderung der Betreuungsqualität. Schulungen zum existenziellen Leiden und die Reflexion der eigenen Endlichkeit ermöglichen mehr Verständnis für Sterbewünsche und die dahinterliegende existenzielle Verzweiflung. Weiters vermindert sich der ansteckende Effekt von Leiden. Dies führt zu mehr Arbeitszufriedenheit und zur Festigung der Fähigkeit, existenziell leidenden Menschen in Gesprächen sicher zu Seite stehen zu können.

Dr. Christoph Gabl, MSc (Palliative Care)
Leitender Arzt im Mobilen Palliativteam Innsbruck & Innsbruck Land der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft; Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Internistische Onkologie; Spezialisierung in Palliative Care; Vortragender im Fachbereich Palliative Care

Quellen:

  • Bozzaro C., Schmerz und Leiden als anthropologische Grundkonstanten und als normative Konzepte in der Medizin. In: Maio G., Bozzaro C., Eichinger T., Hrsg. Leid und Schmerz. Freiburg / München, Verlag Karl Alber, 2015, pp. 17ff.
  • Cherny N.I., Werman B., Kearney M.: Burnout, compassion fatigue, and moral distress in palliative care. In: Oxford Textbook of Palliative Medicine Online, 5th Edition. Cherny N., Fallon M., Kaasa S., Portnoy R.K., Currow D.C. Eds. Oxford University Press, published online April 2015, section 4.16.
  • Längle A., Bürgi D., Wenn das Leben pflügt: Krise und Leid als existentielle Herausforderung. Edition Leidfaden. Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, pp 34ff.
  • Wagner B., Müller J., Maercker A., Death by request in Switzerland: posttraumatic stress disorder and complicated grief after witnessing assisted suicide. Eur Psychiatry 2012; 27: 542-6.

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